Le Monde Problématique vom 16. März 2020
Willkommen zu meiner Debattenrundschau vom 16.03.2020!
Seit meiner letzten Presseschau von vor zwei Wochen – Corona-Artikel: 0 – hat sich weltweite Ausbreitung des Virus extrem beschleunigt. Drastische Maßnahmen waren die Folge, welche auch den Kunst- und Kulturbetrieb beeinträchtigen. Stefan Kobels Presseschau vom heutigen Montag gibt eine ausführliche Übersicht über alle bisherigen (und künftigen) Konsequenzen der Corona-Krise für den Kunstbereich.
Ich verweise hier noch mal extra auf eine Handreichung der Gewerkschaft Ver.di, welche im Namen des Verbands der deutschen Schriftstellerinnen und Schriftsteller ganz praktische Tipps gibt, wie man als selbstständige Person mit kommenden Verdienstausfällen umgehen sollte.
Eine Momentaufnahme aus dem Berliner Kulturbetrieb und der dortigen Clubszene liefert Tobi Müller in seinem Beitrag für die Zeit. Angesichts der wahrscheinlich eintretenden weiteren Einschränkung des öffentlichen Lebens durch politische Entscheidungen zur Verlangsamung der Infektionsrate könnten zehntausende Menschen wirtschaftlich betroffen sein: „In der Hauptstadt arbeiten rund 50.000 Menschen in Kultursparten, die von öffentlichen Auftritten abhängig sind, wie den Darstellenden Künsten, der Musikwirtschaft (Konzerte), dem Kunstmarkt (Ausstellungen) und dem Buchmarkt (Lesungen). Ein generelles Versammlungsverbot würde jedoch noch weiter ausstrahlen auf Rundfunk, Medien, Design, vor allem auf Freischaffende – die Zahl könnte sich mindestens verdoppeln.“
Vor etwas mehr als zwei Wochen wurde der Film „Intrige“ des Regisseurs Roman Polanski mit dem französischen Filmpreis César für die beste Regie ausgezeichnet. Polanski steht schon lange in der Kritik, unter anderem für Vergewaltigung der 13-jährigen Samantha Geimer im Jahr 1977; weitere Frauen haben im sexuelle Übergriffe vorgeworfen. Die französische Autorin Virginie Despentes hat in einem Gastbeitrag für den Spiegel die Preisverleihung an Polanski scharf kritisiert. In ihrem wirklich wütenden Text bezeichnet sie die Ehrung des Regisseurs als schamlose Demonstration einer männlichen Machtelite, welche sie als moralisch bankrott charakterisiert. Sie schreibt: „So werden an diesem Abend alle im Saal zu einem einzigen Zweck zusammengerufen: zur Bestätigung der absoluten Macht der Mächtigen. Und ihr, die Mächtigen, liebt den Vergewaltiger, sofern dieser euch ähnelt, sofern auch er mächtig ist. Dabei bewundert ihr nicht sein Talent, obwohl er Vergewaltiger ist, sondern weil er Vergewaltiger ist, anerkennt ihr sein Können und preist seinen Stil. Ihr liebt ihn für den Mut, seine kranke Lust zu reklamieren, seinen stupiden und systematischen Drang, andere und alles zu zerstören, was er berührt. Ihr empfindet Vergnügen in der Attitüde des Raubtiers. Ihr wisst ganz genau, was ihr tut, wenn ihr Polanski verteidigt: Noch in eurer Kriminalität sollen wir zu euch aufblicken. Das Gesetz des Schweigens muss geachtet werden.“
In der Zeit beschreibt Magnus Klaue die Ausgangslage des Streits um Polanskis zwölffache Nominierung für einen César und versucht dann, die aus seiner Sicht einseitige und polarisierte Diskussion um die Person des Regisseurs etwas komplexer aufzufächern. Dabei nimmt er nicht nur verschiedene biografische Begebenheiten in den Blick wie jüdische Herkunft Polanskis und die Ermordung seiner Frau durch die Manson Family, sondern versucht auch den Geimer-Fall aus unterschiedlichen Gesichtspunkten zu betrachten. In seinem Fazit schreibt er: „In der Gegenwart nun scheint die Wahrnehmung solcher Exterritorialität unter dem Einfluss der #MeToo-Bewegung gegenüber dem Narrativ vom weißen einflussreichen Mann als Täter zurückzutreten. Das Wissen um die Biografie des Künstlers gerät so zur Falle für die Kunstwahrnehmung, indem nicht mehr die Totalität des Lebens und die des Werks miteinander in Beziehung gesetzt, sondern Einzelaspekte der Biografie zum moralischen Kriterium des ästhetischen Urteils gemacht werden. Die Perspektive, Polańskis widersprüchliche Erfahrungen als jüdischer Emigrant und erfolgreicher Filmemacher als Auslöser von Sehnsuchts- wie Hassfantasien zusammenzuführen, um seine Filme besser zu verstehen, scheint gegenüber der Moralisierung des Ästhetischen kaum eine Chance mehr zu haben. Dabei ist der hermeneutische Blick, der biografische Erfahrungen, deren Ausdruck in der ästhetischen Form und die Wahrnehmung von Künstler und Werk durch das Publikum voneinander unterscheidet, ohne sie zu trennen, ursprünglich in Europa entstanden in der Auseinandersetzung mit dem, was in Amerika ‚europäischer Kunstfilm‘ genannt wurde. Gerade ein solcher Blick wäre für die Einschätzung von Leben und Werk Polańskis heute unabdingbar.“
Jon Rafman wurde zur Hochzeit der Post Internet Art bekannt und ist heute einer der wenigen Künstlerinnen jener Zeit, welchen noch immer größere institutionelle Aufmerksamkeit zu Teil wird. Rafmans Spezialität zu Beginn der Zehner Jahre war die Verarbeitung von Internet-Subkulturen und deren Ästhetik zu Videocollagen, welche in entsprechend gestylten Environments gezeigt wurden. Ein klassisches Beispiel wäre „Still Life (Beta Male)“ aus dem Jahr 2013; gibts hier auf Vimeo.
Das war bzw. ist alles sehr finster und durchaus abstoßend, aber insgesamt von einer a-moralischen Haltung des Künstlers geprägt. Der Nihilismus, der Hass, das Trolling und die Frauenfeindlichkeit, welche quasi als „Found Footage“ präsentiert wurden, blieben vom Künstler unkommentiert – ein Umstand, welcher die frühen Arbeiten Rafmans als krass aus der Zeit gefallen erscheinen lassen, schaut man sie sich heute an.
Ein ausführliches Interview mit dem „Gentrifizierer des Internets“ (tolle Bezeichnung; leider habe ich vergessen vom wem der Ausspruch stammt) hat nun das Magazin Spike veröffentlicht; Kurator Aaron Moulton stellte die Fragen. Das ganze Gespräch ist durchaus interessant, verdeutlicht aber vor allem, wie unglaublich schnell dominante Diskurse im Kunst- und Kulturbereich von neuen abgelöst werden können. Dass Rafmans Mangel an moralischer Positionierung innerhalb seiner Kunst durchaus kein Zufall ist, bestätigt sich in folgender Passage: „[…] when I’m asked what the role of the artist is in their relation to social change, I believe that when the work becomes overtly didactic it loses its true aesthetic and critical potential. I still hold the view that art is self-justifying. For me, the most important demand of the artist is to reflect the world around them, but art only indirectly has the power to ‚do‘ things and to promote political change in the real world. The totalitarian desire to dissolve the distinction and critical relationship between art and politics is a sign of regression. The separation of art into its own autonomous domain is a hallmark of progress.“ Ein weiterer exemplarischer Ausschnitt: „[A.M.:] Culture tells you that the right wing doesn’t understand comedy or know how to tell jokes. Most satire is from the left. However, most good memes come from the right. [J.R.:] Whether you are right or left, if you always think you’re morally superior, then you can’t meme as well. Because it’s hard to meme if you’re being sanctimonious.“
Der Bayrische Rundfunk hat eine Besprechung von Uwe Tellkamps neuem Buch „Das Atelier“ veröffentlicht. Der erfolgreiche Autor sorgt seit 2017 mit Äußerungen für Irritationen, welche ziemlich eindeutig von neurechten Ideen durchdrungen sind. Ein Protagonist des Buches ist dem Maler Neo Rauch nachempfunden; ein weiterer Charakter soll Axel Krause darstellen. Wir erinnern uns: Krauses Engagement für eine AfD-Stiftung und seine politischen Äußerungen hatten letztes Jahr zu einigem Chaos in der Leipziger Kunstszene und dem deutschen Feuilleton geführt.
Die Begeisterung fürs Neue wird niemals alt, zumindest nicht in der Zeitgenössischen Kunst. Deshalb hier noch ein Hinweis zu zwei Lesestücken, welche sich mit Zukunftstechnologien beschäftigen:
Jaron Lanier, einer der bekanntesten Internet-Theoretiker, und sein Microsoft-Kollege Glen Weyl, Gründer und Vorsitzender der RadicalxChange-Stiftung, beschreiben in einem Essay für wired.com, warum Künstliche Intelligenz keine Technologie, sondern eine Ideologie sei. Hier ein kurzer Teaser: „[…]The core of the ideology is that a suite of technologies, designed by a small technical elite, can and should become autonomous from and eventually replace, rather than complement, not just individual humans but much of humanity.“ […] „These techniques, however, rely heavily on human data. For example, Open AI’s much celebrated text-generation algorithm was trained on millions of websites produced by humans. And evidence from the field of machine teaching increasingly suggests that when the humans generating the data are actively engaged in providing high-quality, carefully chosen input, they can train at far lower costs. But active engagement is possible only if, unlike in the usual AI attitude, all contributors, not just elite engineers, are considered crucial role players and are financially compensated.“
James Vlahos ist Spezialist für Sprachassistenzsysteme und hat selbst einen Chat-Bot programmiert, welcher wie sein kürzlich verstorbener Vater kommuniziert. Seine Firma Hereafter bietet entsprechende auch anderen Menschen ähnliche Services an. Im Interview mit Anabelle Körbel, welches das Magazin brand eins veröffentlicht hat, beschreibt er digitale Assistenten als eine der zukünftigen Schlüsseltechnologien. Sein Argument: „Wir Menschen mussten uns immer an Maschinen anpassen. Damit sie taten, was wir wollten, mussten wir lernen, mit ihnen zu kommunizieren. Wir klicken, tippen, scrollen. Indem Maschinen das Sprechen erlernen, beginnen sie nun, nach unseren Regeln zu spielen.“ Das Gespräch dreht sich zu einem großen Teil um neue emotionale Verbindungen zwischen Menschen und Geräten, aber auch um Datenschutzaspekte und bisher verborgene kommerzielle Interessen der Anbieterfirmen. Ich musste bei der Firma Vlahos‘ direkt an die Black Mirror Folge „Be Right Back“ (Staffel 1, Folge 6) denken, die auch im Interview erwähnt wird. Eine der besten und traurigsten Episoden der Serie, unbedingt anschauen!
Der Photoshop-Standart-Schlagschatten ist aus der Werbung der Gegenwart nicht mehr wegzudenken. Überall da, wo es billig sein muss und schnell gehen soll, wird er eingesetzt, um rudimentäre Räumlichkeit in Fotokompositionen zu erzeugen. Aber auch in der Grafik von digitalen Benutzeroberflächen begegnet man ihm ständig. Christopher Page, selbst Maler, hat einen Essay auf bombmagazine.org veröffentlicht, in welchem er versucht, den Schlagschatten kunsthistorisch einzuordnen. Er verortet ihm im Feld des trompe l’oeil, welches er zwischen der perspektivischen Raumauffassung der Renaissance und der absoluten Flachheit des Modernismus angesiedelt sieht. Seinen Analyseansatz formuliert er folgendermaßen: „Let’s first look at the truth claims made on behalf of pictorial space in order to show the peculiar place that trompe l’oeil occupies, and from there, we can zoom out to the trompe l’oeil illusions that surround us today, examining whether these deceptions—unlike the supposed ‚truths‘ of Renaissance and Modernist art—are there to mesmerize, to incite desire, or to draw our attention away from the underlying structures of our world.“
A propos „Flachheit des Modernismus“ - die Farbfeldmalerei der Sechziger Jahre ist eine äußerst typische Form dieser Selbstbeschränkung auf die Fläche in der Malerei - ganz im Sinne des damals äußerst einflussreichen Kunstkritikers und Theoretikers Clement Greenberg und seiner Theorie von der Spezifik der künstlerischen Medien. Was hat einem diese Malerei heute noch zu sagen, ganz ohne den theoretischen Kontext der damaligen Zeit? Dieser Frage geht David Carrier nach in seiner Ausstellungsbesprechung für Hyperallergic.com, welche er über die Show „The Fullness of Color: 1960s Painting“ im Guggenheim Museum, New York,verfasst hat.
Noch ein paar Hinweise in Kürze:
Ein ausführliches Interview mit Wolfgang Tillmans hat Kate Brown für news.artnet.com geführt.
Wie reiche KunstkäuferInnen durch das Hinundher-Transportieren von teuren Kunstwerken oder von tatsächlich leeren Transportkisten Steuern sparen, verrät Jonathan C. Schwartz in seinem Artikel für den Observer.
Und ganz zum Schluss noch der Hinweis auf die aktuelle Kolumne von Konrad Paul Liessmann, Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien, welche in der NZZ erschien. Thema: Das Gendersternchen.
Johannes Bendzulla