"Der Tyrann braucht zerbrochene Seelen"
Galt es im 20. Jahrhundert zunächst den Kunstbegriff von der Malerei als Königsdisziplin oder als „Leitmedium der Autonomisierung und Substanzialisierung von Kunst“[1] zu befreien, wurde sie gleichzeitig zur Warenform der Kunst schlechthin. Kritisiert zudem als vornehmlich männliche Domäne und als der Ort, an dem sich ein genialischer Habitus formieren kann, ist sie entweder als künstlerisches Medium radikal abgelehnt worden, zur feministischen Praxis umgewidmet worden, oder in der Kunst selbst zum Untersuchungsgegenstand geworden: Malerei als Diskurs über Malerei oder Malerei als Dispositiv nach dem vermeintlichen und überwundenen Ende der Malerei. Aufgeladen mit Geschichte, ist jede*r, die oder der sich mit ihr befasst, vor die Herausforderung gestellt, ihr etwas abzugewinnen. Und gleichzeitig ist sie eine basale Praxis. So unmöglich es aber ist, sich als Künstlerin nicht in dieser Geschichte zu situieren, so bewusst und gezielt sind dann auch die Ansätze, die sie mit ihren je eigenen Qualitäten zunächst und vor allem als eine spezifische Technik verwenden, um mit ihr eine künstlerische Aussage zu treffen, die nur so getroffen werden kann. An dieser Stelle kommt die Arbeit von Rajkamal Kahlon ins Spiel. Ihr Einsatz kommt von einem Ort, der die westliche Geschichte der Malerei dezentriert und im Sinne einer aus ihr bis dato herausgeschriebenen Geschichte reartikuliert. Während sie zwar Bilder von James Ensor, Watteau, Alfred Pinkham Ryder, Leon Golub oder Philip Guston, sowie die Ikonografien und Kompositionen von Historienmalerei und Porträts studiert hat, sind es auch Künstler*innen wie Dorothy Iannone, Lubaina Himid oder Kara Walker, deren Studioassistentin sie war, oder Glenn Ligon oder Kerry James Marshall, die alle wichtig für sie waren und sind, und die in ihrer Kunst auf je andere Weise das Problem des Rassismus sowie Schwarzer Selbstermächtigung adressieren.
Ein weiterer Strang ihrer Kunst – und natürlich werden sich die Stränge kreuzen –, sind die Zeugnisse von Gewalt, die westliche (Bild-)Archive durchziehen und die die politische Gegenwart immer wieder aufs Neue prägen. Kahlon befasst sich vornehmlich mit Dokumenten der europäischen Kolonialgeschichte sowie der Imperialgeschichte der USA, die nicht nur von den ethnologischen und historischen Museen beherbergt werden, sondern auch antiquarisch erhältlich sind oder, wie die Autopsie-Protokolle aus Guantanamo, Gegenstand der Serie Did you kiss the dead Body (2012) [2], im Internet abrufbar sind, und die in ihren vielfältigen Verzweigungen die politische Gegenwart prägen.
„Anthropology without humanism“ hat der Historiker Andrew Zimmerman jenen Zweig der Anthropologie genannt, die im imperialen Deutschland den Begriff der Rasse geprägt und propagiert hat [3] – qua begrifflicher Klassifizierungen, vermeintlich wissenschaftlichen Fotografien, Körpervermessungen bis hin zu Völkerschauen, deren spiritus rector der Hamburger Zoodirektor Carl Hagenbeck war. Von dieser Geschichte zeugen eine Unzahl an Büchern mit Titeln wie Die Völker der Erde, Die Rasseschönheit des Weibes oder, im US-amerikanischen Kontext, The Passing of the Great Race. All diese Veröffentlichungen hatten Anteil an der Verbreitung dieser den Kolonialismus mittragenden Wissenschaft, an deren Durchsetzung deutsche Forscher maßgeblich beteiligt waren. Während Museen vor die Aufgabe gestellt sind, mit diesem Erbe umzugehen, dessen Kategorisierungen indiskutabel und obsolet sind – und immer wieder sind es Künstler*innen, die dazu eingeladen werden, sich diesem kolonialen Archiv anzunehmen[4] –, lautet eine andere Frage, wie weit diese Bilder und die dahinter liegende Epistemologie bis ins Heute reichen. In einem Interview sagt Rajkamal Kahlon, dass der 11. September 2001 derjenige Moment war, „der all diese Dinge an die Oberfläche brachte – die Stereotypen, die Vorurteile, den Rassismus, die Fremdenfeindlichkeit [...] Die Sprache der Texte des 19. Jahrhundert umgab mich überall in der Mainstream-Presse – Ideale der Aufklärung wie Freiheit, Demokratie und Zivilisation als Teil westlicher Identität versus Barbarei, Wildheit, Irrationalität und Primitivismus als den östlichen Körper und die östliche Landschaft definierend.“ [5]
Von der Beschämung, die diese Praxis produzierte, gibt es Dokumente, in denen die Personen ihren Protest formulierten.[6] Es ist aber auch beschämend, sich diese Bilder anzuschauen, für die Personen als bloßes Material behandelt wurden, um obskure Theorien westlicher und weißer Suprematie zu propagieren oder (s)einen sexualisierten Exotismus mit wissenschaftlicher „Objektivität“ zu kaschieren – und beschämend nicht nur, weil man selbst in dieser Geschichte steht, sondern weil man immer wieder zur Zeugin oder schlimmstenfalls zur Komplizin historischer wie gegenwärtiger Bloßstellungen wird. Und so stellt sich die Frage: Wie eine persönlich empfundene Betroffenheit wieder in eine öffentliche Artikulation überführen, sie auf diese Weise teilbar zu machen und als eine gemeinsame Frage zu behandeln? Dies ist ein weiterer Einsatz der Malerei und der Zeichnungen von Rajkamal Kahlon; weniger eine Arbeit an Archiven im Sinne einer historischen Recherche, sondern ein gemeinschaftliches Abarbeiten an Bildern – gemeinschaftlich im Sinne der Adressierung. „As an artist, part of my logic is that the documents perform a second stage of violence to the body that has already experienced incarceration and death, further subjected to dismemberment and scrutiny. The documents are contained within an archive, which serves a secular memorial function, erasing rather than helping us to remember these excesses of power.“[7] Kahlon setzt diese Dokumente wieder in die Welt und versetzt sich dabei selbst in die Lage einer Bezugnahme, durchaus auch als Selbstbehauptung gegen diese Gewalt im Sinne von Widerständigkeit.
In den USA aufgewachsen, in Berlin lebend und gleichzeitig mit vielen Geschichten identifiziert, der Kolonialgeschichte Indiens, der Geschichte der Sklaverei und dem Genozid an den amerikanischen First Nations, befindet sich Rajkamal Kahlon an einer Schnittstelle sich kreuzender, ungleicher und von Gewalt geprägter Geschichten, derer sie sich annimmt.
A Brief History of Afghanistan lautet der Titel einer Arbeit aus der Serie Double Take (2010), produziert während der langen Besetzung und „Befreiung“ Afghanistans[8] und einige Zeit vor der Fassungslosigkeit, die momentan alle beschäftigt. Und dieser Text ist in genau dem Moment im August 2021 geschrieben, in dem das Ultimatum der Taliban für die Evakuierung nichtafghanischer Staatsbürger*innen und afghanischer Ortskräfte, die mit den USA und westlichen Mächten zusammengearbeitet haben, abläuft. Die Bundeswehr ist gerade vollständig abgezogen, kurz nachdem der IS den ersten Anschlag mit zahlreichen Toten am Flughafen von Kabul verübt hat.
Es ist häufig ein Problem in der künstlerischen Bearbeitung jüngster Geschichte und politischer Ereignisse, dass diese drückender, größer sind, als dass eine einzelne künstlerische Arbeit eine adäquate Beantwortung sein kann. In diese Kluft, in die jede*r impliziert ist, gilt es aber hineinzuspringen. „Painting opens up intuitive non discursive horizons where poetic beauty and anarchic humor can confront coercive power.“[9] Dies ist eine Möglichkeit. Ihre Weise der Wiedervorlage ist es, was die beiden Stränge zusammenbringt. In zahlreichen Serien, die eher ein Arbeiten an etwas sind als ein Werk über etwas, praktiziert sie diese Weise der malerischen und zeichnerischen Begegnung. Ihr Material ist meistens Gouache oder Acryl, wasserbasierte Farben, die sehr unterschiedlich handhabbar sind, opak, transparent, leuchtend, blass, tief, flächig – je nachdem, was sichtbar bleiben und was verdeckt werden soll. Der körperliche Bezug, den Malerei und Zeichnung auf ihre Weise ermöglichen durch die Nähe zum Gegenstand, als durchaus auch körperliche Tätigkeit, in der Materialqualität von Flüssigkeit, durch die Geschichte der Figuration, durch Mimesis, wird von ihr auf verschiedene Weise hergestellt: mit der Arbeit an Porträts, qua ausgeschnittener, lebensgroßer Figuren, sogenannte Cut Outs, mit denen sie an die Kunst von Lubaina Himid anschließt, die wiederum seit den 1980er Jahren im Rahmen des Black Art Movement aktiv ist und deren Schablonen die Ausstellungsräume regelrecht bevölkern. Oder die eingesetzte Technik ruft selbst, etwa im Fall der Marmorierung des Papiers in ihrer Serie zu den Autopsie-Protokollen, unverkennbar die Assoziation an fleischliches Gewebe hervor. Körper, so eine Definition, zeichnen sich durch die „Macht zu affizieren und affiziert zu werden“[10] aus.
Nicht jede ihrer Serien ist von dem oben beschriebenen anarchistischen Humor durchzogen. Sicher aber die Serie Die Völker der Erde (seit 2017), für die sie ein in mehrfachen Auflagen erschienenes Buch des Zoologen (!) Kurt Lampert von 1900ff zerlegt und dessen Einzelseiten übermalt. Die Fotografierten werden re-individualisiert, ihnen wird ein Gesicht zurückgegeben, ohne Anspruch auf Realismus, aber mit dem Anspruch, aus den Typisierten wieder Personen zu machen, ihnen eine wie auch immer fiktive Identität zu geben. Kahlons durchscheinende Übermalungen entheben sie ihrer rassistischen Markierung und streichen gleichzeitig die Gewalt heraus, denen die Personen unterlagen. Sie exorzieren die sexuellen Phantasien, mit denen ihre Körper belegt worden sind, sie bedecken nackte Körper, geben den Personen qua wiedererkennbarer Attribute einen Platz in der Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts (poppige Kleidung, #Black Lives Matter-Plakat, US-amerikanischen Flagge u.v.a.), lassen sie als Personen erscheinen, die über militante Gegenwehr verfügen oder schlicht als solche, die jeder und jede sein könnte. Es geht dabei um die Möglichkeit einer empathischen Bezugnahme auf jene, mit denen keine Begegnung mehr stattfinden kann, die nicht mehr gekannt werden können, aber die, anonym bzw. anonymisiert, durch ihre Bilder präsent sind. Es ist eine Arbeit an Geistern und Heimsuchungen und Traumata als psychisches und realpolitisches Faktum. Wie der Philosoph und African Studies-Wissenschaftler Norman Ajari kürzlich in einem Vortrag im Rahmen der Konferenz „The White West IV: Whose Universal“ betonte – zwei Arbeiten von Rajkamal Kahlon eröffnen die Internetpräsenz dieser Veranstaltung[11]: „The fundament of racism [...] is not about hating other groups, it is not about discrimiating other groups" – all das sei natürlich Bestandteil des Rassismus – "but its roots are about producing race, not the black or jewish, but producing the white race as pure and superior.“[12] Die epistemische Gewalt dieser Abbildungen und Texte wird mit einer Geste beantwortet, die eine andere Beziehung zu den Fotografierten etabliert, eine persönliche Beziehung des Respekts und der Solidarität, eine rückwirkende Kontaktaufnahme.[13] Der „vermeintlichen wissenschaftlichen Objektivität“ dieser Bücher wird mit „radikaler Subjektivität“[14] begegnet. Subjektivität, wie sie der Malerei oft anhaftet oder ihr zugeschrieben wurde, ist hier allerdings kein Rückzug oder ein Beharren auf einem Individualismus, sondern ein offensiver Einsatz, der die imaginäre Begegnung mit diesen auf diese Weise wieder singularisierten Personen zu einer für alle Betrachter*innen anschließbaren Möglichkeit macht.
„Gewalt“ schreibt sich so einfach als Begriff. Ihre Erfahrung ist aber immer, auch in ihrer psychischen oder strukturellen Dimension, eine körperliche. Die Black Studies haben die Unterscheidung zwischen „body“ und „flesh“ eingeführt, um der Verdinglichung und Entrechtung einen Namen zu geben.[15] Wird sie nur hingenommen, dann weil die vermeintlich sichere Warte der Zuschauer*in diese Haltung ermöglicht. Diese Bequemlichkeit gilt es für Rajkamal Kahlon herauszufordern, qua Malerei und Zeichnung, um allererst und überhaupt dazu in ein Verhältnis zu treten. Ihre Arbeiten sind bisweilen täuschend spielerisch, „täuschend“, weil unbequem.
Wie Gilles Deleuze sinngemäß sagte: Wir haben schon immer eine Welt verloren. Daher ist nicht die Verbesserung der Welt der Modus des Umgangs, sondern Affirmation, was nicht heißt, zu beschönigen oder etwas gut zu finden, sondern anzunehmen und zu konfrontieren.
Prof. Dr. Susanne Leeb unterrichtet zeitgenössische Kunst an der Leuphana Universität Lüneburg.
[1] Vgl. dazu: Helmut Draxler, „Malerei als Dispositiv. Zwölf Thesen“, in: Texte zur Kunst Nr. 77 (März 2010) (Themenheft: Painting is not the Issue), S. 39-45.
[2] Vgl. https://www.didyoukissthedeadbody.com/ [zuletzt aufgerufen am 25.8.2021].
[3] Andrew Zimmerman, Anthropology and Antihumanism in Imperial Germany, Chicago 2001.
[4] Auch Kahlons Serie Die Völker der Erde ging eine solche Einladung voraus und zwar am Weltmuseum Wien unter der damaligen Direktion von Barbara Plankensteiner, die jetzt das MARKK in Hamburg leitet.
[5] Interview mit Rajkamal Kahlon von Manan Ahmed, in: Rajkamal Kahlon. Doppelbilder/Double Vision, hrg. von Mirjam Oesterreich und Reinhard Spieler, Ausstellungskatalog. Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen, Bielefeld 2012, S. 24-27, hier: S. 26.
[6] Vgl. dazu z.B.: Anette Hoffmann (Hrg.) What We See. Reconsidering an Anthropometrical Collection from Southern Africa: Images, Voices, and Versioning, Basel 2009.
[7] Statement der Künstlerin zu ihrer Arbeit Did you kiss the dead body?, siehe: https://www.didyoukissthedeadbody.com/about2 [zuletzt aufgerufen am 25.08.2021]
[8] Kahlon verweist in diesem Zusammenhang auf das Buch von Nikhil Pal Singh, Race and America’s Long War, Berkely 2017.
[9] Rajkamal Kahlon, „Love and Loss in the Ethnographic Museum“, in: Matters of Belonging: Ethnographic Museums in a Changing Europe, hrg. von Wayne Modest et al., Leiden 2019, S. 100–109, hier: S. 103; Kahlon bezieht sich hier auf ihre Arbeit Do You Know Our Names? (seit 2017), für die sie ebenfalls Reproduktionen aus dem Buch Die Völker der Erde bearbeitet, diesmal im Porträtformat.
[10] Deleuze, Spinoza, a.a.O., S. 160.
[11] https://hkw.de/de/programm/projekte/2021/the_white_west_iv/start.php
[12] Norman Ajari, „Decolonial Iconoclasm“, Vortrag auf der Konferenz „The White West IV: Whose Universal?“, Haus der Kulturen der Welt, Berlin, 10. Juli 2021, organisiert von Kader Attia, Anselm Franke und Ana Teixeira Pinto. https://www.hkw.de/en/programm/projekte/veranstaltung/p_178867.php, min: 46:44 - 1:13:20 [zuletzt aufgerufen am 25.08.2021], hier: ca. min 1:11-1:15.
[13] Vgl. Susanne Leeb, „Idiome: Die Kleinen 'k's der Kunst / Idioms: The minor 'a's of Art“, in: Texte zur Kunst 108 (Dezember 2017), S. 32–55, hier: S. 37.
[14] Ruth Stamm, „Rajkamal Kahlon: Die Völker der Erde (People of the Earth) (2017 onward)“, in: Museums, Transculturality and the Nation State, hrg. von Susanne Leeb und Nina Samuel (im Erscheinen).
[15] Zuerst wurde diese Unterscheidung von Hortense Spillers in ihrem Text „Mamay's Baby, Papas Maybe. An American Grammar Book” [1987], in: Black White, and Color: Essays on American Literature and Culture, Chicago 2003, S. 203-229 eingeführt. Vgl. dazu ausführlicher: Alexander Weheliye, Habeas Viscus. Racializing Assemblages, Bipolitics and Black Feminist Theories of the Human, Durham, London 2014, v.a. Kap. 2 „Bare Life: The Flesh“: „If the body represents legal personhood qua self-possession, then flesh designates those dimensions of human life cleaved by the working together of depravation and deprivation. “ (S. 39)