Wenn nicht hier, wo dann? Interview mit Martin Köttering und Bettina Uppenkamp zur Berufung der Gastprofessoren Reza Afisina und Iswanto Hartono
Im Wintersemester 2022/23 übernehmen die beiden ehemaligen documenta Kuratoren Reza Afisina und Iswanto Hartono eine Gastprofessur an der HFBK Hamburg. Im Gespräch mit dem Kunstpublizisten und Kurator Raimar Stange gehen Martin Köttering (Präsident) und Bettina Uppenkamp (Vizepräsidentin) auf die Beweggründe und die Motivation der HFBK Hamburg ein
Raimar Stange: Schon vor der Eröffnung der documenta fifteen hat die HFBK Hamburg die beiden ruangrupa-Mitlieder Reza Afisina und Iswanto Hartono eingeladen, an der HFBK Hamburg als Gastprofessoren zu lehren. Wie kam es dazu?
Martin Köttering: Wir hatten auch in der Vergangenheit immer die documenta-Kurator*innen zu Gast an der HFBK Hamburg. So war es auch in diesem Fall. Reza Afisina und Ayse Güleç waren als Vertreter*innen der documenta-Kurator*innen bereits im letzten Oktober zu einem öffentlichen Gespräch mit den beiden HFBK-Professorinnen Nora Sternfeld und Astrid Mania eingeladen. Im Anschluss fand ein Workshop mit Studierenden statt. Und daraus entwickelte sich die Idee, ruangrupa für einen längeren Zeitraum an die HFBK Hamburg zu holen. Sie waren ja auch schon vor der documenta fifteen international bekannte Kurator*innen und Künstler*innen. Sie mit unseren Studierenden zusammenzubringen und gemeinsam arbeiten zu lassen, erschien uns wichtig. Wir bemühen uns bereits seit einigen Jahren verstärkt darum, Positionen des Globalen Südens einzuladen. Daher haben wir beim Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) einen entsprechenden Antrag gestellt, der bewilligt wurde. So ist es letztlich dazu gekommen, dass Reza Afisina und Iswanto Hartono jetzt ab Oktober bei uns als Gastprofessoren tätig sind.
Bettina Uppenkamp: Ich würde vielleicht noch eine Sache ergänzen. Zu dem Zeitpunkt, an dem die Einladung erfolgte, also lange, bevor die documenta eröffnet wurde, sind wir sehr neugierig auf ihren Ansatz gewesen. Denn der Gedanke der Kollektivität spielt auch unter unseren Studierenden eine große Rolle. Insofern haben wir uns von ihnen interessante und anregende Impulse für unsere Hochschule versprochen – und versprechen sie uns auch weiterhin.
Martin Köttering: Ich würde bei deiner Bemerkung sogar vor die Neugierde noch ein „berufsbedingt“ setzen. Denn es gehört ja auch gerade zum Auftrag der Hochschule, dass wir uns bei der Ausbildung von jungen Studierenden um die neuesten künstlerischen Fragestellungen bemühen.
Raimar Stange: Während der documenta fifteen wurden die Kurator*innen von ruangrupa dann von Politik, jüdischen Verbänden und weiten Teilen der deutschen Leitmedien dafür kritisiert, eine „Antisemita“, so Der Spiegel, kuratiert zu haben. Auch wenn die internationale Presse sowie die Fachpresse, auch die deutschsprachige, das deutlich differenzierter sahen: Haben Sie zu einem bestimmten Zeitpunkt in Erwägung gezogen, Reza Afisina und Iswanto Hartono wieder auszuladen?
Martin Köttering: Wir haben uns diese Frage natürlich gestellt. Aber wir stehen zu dieser Entscheidung und wollen diese DAAD-Professur umsetzen, besonders um die künstlerischen Fragestellungen der documenta fifteen in einem anderen Format und in einem anderen Rahmen aufzugreifen und fortzuführen, und zwar mit Studierenden und Lehrenden – und mit den beiden documenta-Kuratoren. Wir wollen mit ihnen sprechen, nicht über sie. Und wir wollen den von ihnen aufgeworfenen künstlerischen Fragen mehr Aufmerksamkeit zukommen lassen. Natürlich werden wir die Zeit nutzen, um die documenta aufzuarbeiten. Dafür ist der zeitliche und räumliche Abstand, das Eingebundensein der Kuratoren in das künstlerisch und theoretisch diverse Netzwerk der Hochschule sicherlich hilfreich.
Bettina Uppenkamp: Das geht mir ganz ähnlich. Und ich denke sogar, es wäre ein Fehler gewesen, sie aufgrund des massiven medialen Drucks wieder auszuladen. Die Diskussion um die documenta fifteen und um die künstlerischen Ansätze, auch um die schwierigen Fragen, die die Medien beherrscht haben, muss fortgesetzt werden. Davor sollte man sich nicht drücken.
Martin Köttering: Ich würde sogar so weit gehen, dass die Hochschule eine Verantwortung als künstlerisch-wissenschaftliche Institution hat, die aufgeworfenen Fragen der documenta fifteen auf dem Feld des Künstlerischen sehr ernst zu nehmen und sich im Auftrag von Lehre und Forschung damit zu beschäftigen. Ich erkenne nach wie vor viele künstlerische Errungenschaften der documenta fifteen, die in der öffentlichen Wahrnehmung nicht ausreichend bearbeitet, analysiert und diskutiert wurden. Da wollen wir gemeinsam mit den Kuratoren an der HFBK Hamburg ansetzen. Wir bieten einen geschützten Raum an, in dem ohne mediale Öffentlichkeit gesprochen werden kann. Wir sind ein Lernort. Für alle Beteiligten. Im gemeinsamen Diskurs werden Dinge erprobt, Sichtweisen verhandelt und korrigiert. So funktionieren Gruppenkorrekturen in der Kunst aber auch Seminare in der Theorie. Und so kann auch der Austausch mit den beiden Gastprofessoren stattfinden.
Raimar Stange: Wie gehen Sie mit den Antisemitismus-Vorwürfen gegenüber den beiden Kuratoren um?
Martin Köttering: Uns ist die Tragweite dieses Vorwurfes und die damit verbundene Verantwortung sehr bewusst. Aber die beiden Gastprofessoren haben den Vorwurf des Antisemitismus immer wieder zurückgewiesen. Und um es ganz klar zu sagen, die HFBK Hamburg ist kein Ort und wird keinen Raum für antisemitische Äußerungen und Ansichten bieten. Dafür stehen auch unsere zahlreichen Studierenden und Lehrenden mit jüdischem Hintergrund. Die Hochschule ist ein politischer Ort. Wir widmen uns seit Jahren den Themen Rassismus, Diskriminierung oder Identitätspolitik. Außerdem haben sich viele unserer Professor*innen und Studierenden in ihren Arbeiten und Projekten intensiv mit Antisemitismus, Rechtsradikalismus und der deutschen Geschichte auseinandergesetzt. Dafür lassen sich stellvertretend Arbeiten von Prof. Dr. Nora Sternfeld, Prof. Michaela Melián, Prof. Rajkamal Kahlon oder Talya Feldman benennen. Das ist das Gewicht, dass die Hochschule einbringen kann, um die Glaubwürdigkeit unseres Anliegens deutlich zu machen. Das ist die gemeinsame Grundlage, auf der wir arbeiten. Wir bieten den Themen, die im Rahmen der documenta fifteen aufgeworfen, aber eben nicht ausreichend reflektiert wurden, einen Diskursraum, um sich ihnen ernsthaft zu widmen. Wenn nicht hier, an einer künstlerisch-wissenschaftlichen Hochschule, wo und wann sonst sollte das stattfinden? Gleichzeitig haben wir mit Prof. Dr. Meron Mendel, dem Hamburger Institut für Sozialforschung und anderen Vertreter*innen gesellschaftlich relevanter Gruppen/Institutionen, qualifizierte Kooperationspartner an unserer Seite, um diese Debatten nicht nur innerhalb der Hochschule, sondern auch öffentlich zu führen.
Raimar Stange: Meiner Einschätzung nach gibt es im Moment eine kaum zu überbrückende Kluft zwischen avancierten Kunst- und den Mainstreammedien. Das Niveau der Diskussion rund um die documenta fifteen hat das mehr als deutlich gemacht. So wurde zum Beispiel immer wieder von „sogenannten Künstlern“ geschrieben, also die Zunft der zeitgenössischen Kunst als Ganzes diffamiert. Kann eine Kunsthochschule da vermitteln? Oder wird sie so etwas wie eine Oase, eine der wenigen Orte, wo avancierte Kunst noch adäquat reflektiert wird?
Martin Köttering: Ich glaube, auf dieses Niveau, respektive auf diese Diskussion würde ich mich gar nicht einlassen. Wir als Kunsthochschule, und das finde ich tatsächlich in dem Kontext sehr viel wichtiger, haben einen gesellschaftlichen und politischen Auftrag. Wir sollen uns – und jetzt zitiere ich aus dem Hamburger Hochschulgesetz – um „die Pflege und die Entwicklung der Wissenschaften und der Künste durch Forschung, Lehre, Studium und Weiterbildung in einem freiheitlichen, demokratischen und sozialen Rechtsstaat“ kümmern. Das ist unser Auftrag. Und in dem Moment, in dem wir das ernsthaft tun und verfolgen, müssen wir uns mit den durch die documenta fifteen aufgeworfenen Fragen auseinandersetzen. Und zwar auf einem anderen Niveau, als es vielleicht manchmal in den Feuilletons der deutschen Presse stattfindet. Darin sehe ich tatsächlich eine Pflicht.
Raimar Stange: Die konkreten Konzepte und Ansätze der documenta fifteen, zum Beispiel unhierarchische Horizontalität und Kollektivität, empathische Performativität und soziale Vernetzung, wurden in den letzten Monaten leider kaum öffentlich diskutiert. Sind das die Inhalte, die euch an der Berufung der beiden Gastprofessoren besonders interessieren?
Martin Köttering: Unbedingt. Diesen Fragestellungen wollen wir an der HFBK Hamburg einen weiteren Resonanzraum geben – zusammen mit den Studierenden. Mit ihnen wollen wir diskutieren, und natürlich können sie diese Ansätze auch in ihrer eigenen künstlerischen Praxis selbst erproben. Und natürlich werden wir uns auch dem Themenkomplex rund um Antisemitismus, Kunst und Postkolonialismus stellen. Es gilt, die partikularen Interessen anzuerkennen und trotzdem miteinander im Gespräch zu bleiben, also nicht übereinander, sondern miteinander reden.
Bettina Uppenkamp: Ich würde dem vielleicht hinzufügen, dass wir in der Einladung eben auch die Chance sehen, diese Ansätze kritisch zu diskutieren.
Raimar Stange: Das Spannende an diesen von mir aufgezählten Punkten ist ja, dass sie in gewisser Weise diametral unserem eurozentrischen und westlichen Kunstbegriff entgegenstehen: Der/die einzelne Künstler*in steht nicht mehr im Mittelpunkt, Prozesse werden wichtiger als abgeschlossene Werke, das Hierarchieverständnis von freier und angewandter Kunst wird hinterfragt. Damit gehen natürlich auch Deutungsverluste „eurozentristischer Gatekeeper“ einher. Meiner Meinung nach ist das auch ein Grund für die sehr negative Medienberichterstattung der letzten sechs Monate.
Bettina Uppenkamp: Das deckt sich mit meinem Eindruck, dass Künstlerinnen und Künstler, mit denen ich gesprochen habe, die documenta fifteen eher skeptisch bis negativ aufgenommen haben, weil sie sich genau dadurch herausgefordert fühlten, auch in ihrer eigenen künstlerischen Produktion. Während im Gegenteil nicht-professionelle Besucher*innen das diskursive und entspannte Angebot in der Vielfalt äußerst dankbar und produktiv aufgenommen haben.
Raimar Stange: Und genau darin liegt ja die Spannung. Viele wurden durch diese documenta verunsichert. Und damit kann man entweder souverän umgehen und es als etwas Positives betrachten, oder es schlägt um in Aggression – und auch das konnten wir an den Reaktionen auf diese documenta sehen.
Martin Köttering: Die Hochschule wird ein Ort sein, an dem diese Debatten in einem künstlerischen Umfeld fortgesetzt werden. Sowohl mit den Lehrenden und Studierenden in Seminaren, Ausstellungsprojekten und anderen experimentellen Formaten, als auch mit der Öffentlichkeit. Ende November wird das Hamburger Institut für Sozialforschung mit uns und der Helmut-Schmidt-Universität den gemeinsamen Workshop und die Podiumsdiskussion „documenta fifteen als politisches und kulturelles Ereignis“ veranstalten, bei dem zentrale Aspekte im Zusammenhang mit der documenta fifteen noch einmal wissenschaftlich reflektiert werden: Welchen Stellenwert hat das von den Kuratoren verfolgte Konzept innerhalb aktueller Entwicklungen in der Kunst? Wie sind die ausgestellten Werke in der globalen Kunstlandschaft einzuordnen? Welche Rolle spielte die Wissenschaft in den Ereignissen?