Die Tresen-Kolumne: Tretboot und Gewalt
Die Woche fing an mit einem gestohlenen Tretboot. Ich saß alleine am Tresen meiner alten Arbeitsstelle, bis der bebrillte Mann neben mir anfing, in meine Richtung zu sprechen. Sein Tretboot sei ihm von drei Wochen am Ufer in Eilbek abhanden gekommen. Er hatte es mit einer Kette und einem Vorhängeschloss an einem Baum befestigt. Nun, nach drei Wochen, stand es wieder da, mit einer neuen Kette und zwei Vorhängeschlössern. Was er nun tun solle, fragte er mich. „Nun ja,“ antwortete ich, „die Sache sei ja klar. Jemand hat sich auf dem nächtlichen Nachhauseweg das Tretboot für den Weg über die Alster geliehen und habe es nun, mit schlechtem Gewissen und bei besserem Wellengang wieder zurückgebracht. Die Kette und das Schloss seien also nur dazu da, dass niemand anderes als der Besitzer an das Boot herankämen und dieser Besitzer, also der gesprächige Mann neben mir, wäre dazu eingeladen, ebendiese Kette selbst zu durchtrennen und es wieder in Besitz zu nehmen.“ Der Mann neben mir traute sich aber nicht. Irgendjemand hatte ihm die Idee ins Ohr gesetzt, dass die Wahrscheinlichkeit bestünde, dass die Leihnehmer_innen seines Bootes auch genausogut die 187 Straßenbande sein könnten und er wolle nunmal keine Probleme. Also stand es da, sein Boot, an seinem alten Platz und einer fremden Kette und regnete langsam voll. Wir tranken noch einen Schnaps auf den Schrecken, ich Averna, er Jägermeister. Beides Kräuterliköre und somit aus der Familie der meistgetrunkensten Spirituose in Deutschland. Deutschland ist ein Kräuterlikörland und keine Kleinstadt ohne ihre eigene Lokalvariante. Italienische Kräuterbitter sind in der Regel nach der Produzent_innenfamilie benannt: Die Brüder Branca, Salvatore Averna oder Ausano Ramazotti. In Deutschland bildet sich in der Benennung dieser Schnäpse die gesamte Oktave prekärer Männlichkeit zwischen Hallenbad-Erotik, katholischer Heiligkeit und schlichten Gewaltfantasien ab, ein Psychogramm deutscher Befindlichkeit: Melanie, der feine Kräutergeist, der Grobian, Brockumer Stutenpisse, Angelique Cristall, Hoppel Hoppel, Jagdstolz, Hengstschluck, Bullenschluck, Sesseltropfen, Wunschbecher, Rixdorfer Galgen, Ratzeputz und Maikäferflugbenzin, natürlich superbleifrei, wie witzig. Im Endeffekt könnte man wahrscheinlich eine argumentative Linie ziehen, zwischen der Welt, die sich in dieser Namensgebung abbildet und der 187 Straßenbande. Die Erkenntnis, dass der Schnaps in seiner Hand und die Angst vor zukünftigen Gewalterfahrungen zwei Ausformungen ein und derselben Struktur sind, hilft dem ratsuchenden Tretbootbestizer wahrscheinlich gar nicht weiter. Vielleicht hätte er doch besser einen Wunschbecher bestellen sollen.