Die Tresen-Kolumne: Stärke und Zucker
Stärke und Zucker
Ich habe die letzten Tage in der Stadt meiner Kindheit und Jugend verbracht: Hildesheim. Hildesheim liegt zwischen Hannover und Braunschweig, im sogenannten „Potte“. So heißt der Talkessel der Hildesheimer Börde im stadteigenen Platt. Die Börde, das ist so eine eiszeitliche Gletscherbremsspur, wie mein Vater sagt. Das Zeug, das vom Gletscher mitgeschleift wurde, bildet dort nun den dunklen, fast schwarzen Lössboden, der überwiegend aus Schluff besteht. Er eignet sich ganz prima für Kartoffeln und Zuckerrüben – Stärke und Zucker, damit kann man schon einiges anfangen. Ansonsten gab es als großen Arbeitgeber der Stadt bis 2016 Bosch-Blaupunkt, dort wurden Autoradios gebaut, die sind aber kaputt gegangen. Also die Firma, nicht die Radios. Phoenix Gummi gab es früher auch mal, dieselbe Firma wie in Harburg, da wo Falckenberg jetzt seine Sammlung drin hat. Gummiproduktion war auch einer der Gründe, warum Hildesheim so schwer bombardiert wurde im Weltkrieg. „Das Fachwerk brannte zuerst“, so hat Arne Schmitt ein Kapitel in seinem Buch „Wenn Gesinnung Form wird“ genannt. Und so war es auch. Hildesheim musste sich neu erfinden in den 50er Jahren. In diesem Jahrzehnt bin ich architektonisch aufgewachsen. Obwohl meine Eltern in einem Neubaugebiet der 70er Jahre lebten, war alles um uns herum aus der Zeit des Wiederaufbaus. Schnell hochgezogene Wohnblöcke – und später grau gepflasterte Fußgängerzonen mit zweistöckigen Geschäftsräumen. Ein Laden für Schuhe, ein Laden für Rasierapparate, einer für Heidesand und dann das Pfannkuchenhaus. Aus meiner Hamburg-Perspektive sind Wohnblöcke inzwischen natürlich ganz normal. Als Kind der akademischen Mittelschicht, deren Einfamilienhäuser sich um die Neogotische Kirche drückten, waren diese Blöcke aber immer ein bisschen unheimlich. Dort wohnten Kindergartenfreunde, deren Eltern bei Blaupunkt arbeiteten. Es roch nach Weichspüler mit Pfirsich, nach Rauch und ein bisschen nach verbotenem Abenteuer. In den Häusern meines Wohnviertels roch es höchstens nach alten Gardinen oder Hobbykellern, nach Abendmaloblaten und Büchern. Ich war oft bei Vitali S. zu Besuch und lernte so schnell alle Filme von Jean-Claude Van Damme kennen. Seine Familie war als sogenannte Spätaussiedler aus Russland gekommen über das Zwischenlager in Friedland. Dort kamen nach dem Krieg auch die ganzen Spätheimkehrer aus den russischen Lagern an und wurden über Deutschland verteilt. Manchmal, gar nicht so selten, denke ich, es wäre besser gewesen, wenn sie nicht zurückgekommen wären. Eine ganze Generation junger und alter Männer, Wehrmachtssoldaten, die in Russland wer weiß was für Verbrechen begangen hatten. Darüber wurde nicht gesprochen, nur wie schlimm es in den Lagern war. Die kamen also zurück und verdrängten die Frauen aus den Lohnarbeitsverhältnissen zurück an den Herd – der große Rollback der 50er Jahre und gleichzeitig die Wiege des deutschen Mittelstandes. Ein ganzes Land, neu aufgebaut von einem Haufen schweigender Männer. Auch in Hildesheim, klar. Der Typ, der die Fußgängerzone entworfen hat, hat in Russland vielleicht einen Bauernhof mit Leuten drin angezündet. Das bekommt man nicht mehr raus, es ist als Architektur manifest und als Erziehung latent geworden. Die Chance für einen Neuanfang: vergeben.