"String figures" auf rhizome.hfbk.net
In meinem Leben kamen bisher drei Personen vor, die immer in Großbuchstaben geschrieben haben.
Zum Einen war das der Vater von Iris. Mit ihr war ich bis zur fünften Klasse befreundet. Sie wohnte ganz in unserer Nähe und hat immer alles bestimmt. Sie durfte immer Baby sein und ich musste immer Mutter oder Vater sein. Angeblich konnte sie die Stimme besser imitieren. Irgendwann konnte ich mich von ihr emanzipieren. Sie hatten zu Hause einen Wellensittich und ihre Eltern waren sehr merkwürdig. Ich hatte Angst vor Ihnen, sie taten immer sehr erhaben und die Mutter lag oft blondiert, eingeölt und braun gebrannt in Bikinihose und Schmetterlingsbrille auf einer Plastikliege im Garten, der von großen dunkelgrünen Zedern umrahmt war. Ihr Vater war früher im Kongo. Ich wusste lange nicht, was das bedeutet, dass jemand im Kongo war. Ich fand das interessant und unheimlich. Außerdem schrieb er alle Einkaufslisten in Versalien. Sehr deutlich und wunderschön sahen diese Listen aus. Ich durfte zu dieser Zeit nicht in Großbuchstaben schreiben. Ich sollte nur in Schreibschrift schreiben in der Schule.
Silvia schrieb auch fast alles in Großbuchstaben. Ich habe sie während des Studiums kennen gelernt und eine Kommilitonin sagte mal: das ist die einzige echte Künstlerin, die ich kenne. Ein bisschen fand ich das auch.
[…]
WEITER MEINTE SIE, DAS HÄTTE ER LETZTHIN SAGTE ER, JA DAS DENN DIE PROBLEME ER MACHTEN SIE IHREN VÄTERN SCHWIERIG JA DENKE ICH AUCH GANZ OFT FÄLLT ER MIR ALS KÜNSTLER WERD ICH NICHT SAGEN SIE VERDIEN ICH NICHT MÜSSE ICH MIR DENKEN SAGEN SIE MUSS ICH DENKE ICH MÖCHTEN SIE MANCHMAL EINFACH ALLE STERBEN
[…]
schrieb sie mal. Ich muss jetzt noch manchmal weinen, wenn ich das lese. Ich mag diese selbstverständliche Vehemenz mit der Silvia Texte geschrieben hat - mit einer Dringlichkeit, mit der man auch einen Einkaufszettel schreibt.
Und die dritte Person, mit der ich in durch Majuskeln in Kontakt stand war Thomas Hirschhorn. Er beantwortete eine Mail bezüglich meiner Masterarbeit. Ich lese sie gerne.
ICH DENKE ES GEHT DARUM, KUNST ALS ETWAS ZU VERSTEHEN, WAS ICH - ALS MISSION VERSTEHE. JA, ICH HABE EINE MISSION, ICH HABE EINE MISSION WIE EIN SOLDAT EINE MISSION HAT. UND ICH WILL MEINE - MIR SELBST GEGEBENE - MISSION ERFÜLLEN. WAS IMMER ES MICH KOSTET. UND ICH WILL UND MUSS DIESE MISSION "KUNST", MEINE ARBEIT UND MEINE POSITION INMITTEN DER REALITÄT - MEINER REALITÄT - UMGEBEN VON DER REALITÄT UND IN DER REALITÄT - IN DER STÄNDIGEN AUSEINANDERSETZUNG MIT DER REALITÄT - ERFÜLLEN.
ICH WILL DAS IM 'CLINCH' ODER IM 'INFIGHT' ODER MIT HAUTNAHEM KONTAKT MIT DER REALITÄT TUN. ICH WILL DAS NICHT ALS TRÄUMER UND NICHT ALS JEMAND DER AUSFLÜCHTE ODER FREIRÄUME SUCHT TUN, SONDERN ALS JEMAND DER SEINE MISSION ERFÜLLT - ODER VERSUCHT ZU ERFÜLLEN. KEINE AUSREDEN UND KEINE ENTSCHULDIGUNGEN SIND ZUGELASSEN, DENN ICH WILL - UND ICH MUSS - MEINE ARBEIT TUN, JETZT UND HEUTE UND DA WO ICH LEBE. SO 'EINFACH' SEHE ICH DAS, SO 'EINFACH' ES IST, 'LEICHT' IST ES NICHT - ABER WARUM SOLLTE ES 'LEICHT' SEIN?
DENN DAS - GENAU DAS - IST DAS SCHÖNE UND DAS - GENAU DAS - IST ES WAS ES AUSMACHT EIN KÜNSTLER ZU SEIN UND WAS DAZU FÜHRT, DASS WIR EINE ARBEIT MIT GRAZIE MACHEN KÖNNEN. SO SEHE ICH ES. TAKE CARE - TAKE CARE,
THOMAS HIRSCHHORN
take care.
TAKE CARE.
Schon was anderes.
Es ist durchaus unangenehm, wenn man im Dauerfeuer der Versalien steht. Wenn der Inhalt aber so zart und wild ist, dann ist so eine Aneinanderreihung von Großbuchstaben eine gute Praktik: sie blockiert. Und bringt das Gegenüber zur Kapitulation.
‚Die Wölfe im Gehege, sie kapitulieren.’