Being in Crises together
Auf der Berlin Biennale bringt die Feministische Gesundheitsrecherchegruppe das Thema Care-Arbeit und Kunst zusammen
Text: Anna-Lena Wenzel
„Die 11. Berlin Biennale widmet sich den Grundsätzen der Achtsamkeit und Fürsorge, der Zuwendung und Solidarität, des Respekts, der Teilhabe, der Wertschätzung und Würde“, so leitete Gaby Horn, Direktorin der Biennale, in ihrem digitalen Statement die Pressekonferenz ein. Die vier Kurator*innen der Biennale, María Berríos, Renata Cervetto, Lisette Lagnado und Agustín Pérez Rubio, haben deshalb Künstler*innen ausgewählt, die „mit ihren Beiträgen unterschiedliche Wege [finden], Solidarität, Verletzlichkeit und Widerstand zu thematisieren“.
Genau diese Themen bearbeitet die Feministische Gesundheitsrecherchegruppe. Das Kollektiv verbindet feministische Ansätze mit dem Thema Care und einer recherchebasierten Praxis. Der Zusammenschluss besteht seit 2015, als Inga Zimprich internationale Kulturarbeiter*innen zu einem mehrtätigen Treffen einlud, um das Thema „Gesundheit“ zu diskutieren. Heute bildet sie mit Julia Bonn (HFBK-Absolventin bei Pia Stadtbäumer und Michaela Ott) die Feministische Gesundheitsrecherchegruppe. Schon während ihres Studiums an der HFBK Hamburg hat Julia Bonn kollektiv gearbeitet. Zusammen mit der Künstlerin Luitgard Wagner (ebenfalls HFBK-Absolventin) legte sie 2011 ein „Multiplom“ in Form einer Radiosendung ab. Ihre Arbeit im Kollektiv setzte sie nach ihrem Studium fort: innerhalb der nGbK-Arbeitsgruppe Domestic Utopias (2013), die sich utopischen Entwürfen und Formen des Zusammenlebens widmete, und in Form regelmäßiger Radiosendungen bei reboot.fm. Parallel hat Julia Bonn eine Ausbildung als Körpertherapeutin absolviert und führt in der Feministischen Gesundheitsrecherchegruppe nun beide Interessen und Kompetenzen zusammen, statt sie – wie so oft im Kunstfeld – zu negieren, weil es als unprofessionell gilt, wenn man sich nicht ausschließlich auf die Kunst konzentriert und auch noch Kinder hat.
Ähnlich wie Bonn ist Inga Zimprich nach ihrem Studium an der Gerrit Rietveld Academie, Amsterdam, und der Jan van Eyck Academie, Maastricht, Teil verschiedener selbstorganisierter Kollektive gewesen, mit denen sie die performativen Bedingungen, Ausschlüsse und Wertsetzungen des Kunstfeldes untersucht und hinterfragt hat. Zusammen mit Alice Münch etablierten sie regelmäßige Treffen, um sich über ihre Erfahrungen als Künstlerinnen und Mütter sowie die Themen Fürsorge und Erschöpfung auszutauschen.
Dem internen Austausch folgten Recherchen zu historischen Vorläufer*innen, wie der West-Berliner Gesundheitsbewegung der 1970er und 1980er Jahre, und Kurzschlüsse mit feministischen und gesundheitspolitischen Bewegungen, die aus der Radikalen Therapie, der Antipsychiatrie und queerer Selbstsorge kommen. Die Rechercheergebnisse flossen in mehrere Zines, Workshops und das Archiv Practices of Radical Health Care ein. Die Kombination aus aktivistischer Haltung und Selfcare, künstlerischer und forschender, kuratorischer und performativer Praxis, aus der heraus eigene Präsentations-, Vermittlungs- und Workshopformate entwickelt werden, trifft offensichtlich den Nerv der Zeit. Es folgten Einladungen der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK), der Bergen Assembly, der Arsenal City Gallery Poznan und Ausstellungen bei District Berlin und im M.1 Arthur Boskamp Stiftung in Hohenlokstedt – um nur einige zu nennen.
Mitte 2019 kam die Anfrage der Berlin Biennale, ob die Gruppe im Rahmen der vorgelagerten dreiteiligen Ausstellungsserie Experiência auf dem ExRotaprint Gelände im Wedding ihre Arbeit ausstellen möchte (1). Die Idee dieser Experiência war es, lokale, recherchebasierte Praxen und Archive mit internationalen künstlerischen Positionen zu kombinieren (2). Zusammen mit Arbeiten der Künstlerin Virginia de Medeiros präsentierte die Recherchegruppe vom November 2019 bis Februar 2020 ihr Archiv und lud die Sickness Affinity Group ein, gemeinsam einen Workshop durch zu führen. Die Einladung umfasste zudem die Produktion eines neuen Zines, das Teil der Ausstellung Epilog ist, die am 4. September 2020 an vier Orten in Berlin eröffnete. Das Zine wurde am 17. September – coronabedingt im kleinen Kreis – unter dem Titel „Acts of Listening. Illness, crisis, and the labor of care“ vorgestellt (3).
Die Kuratorin María Berríos betonte in ihrer Einleitung die Aktualität des Themas aufgrund der durch die Covid-19 ausgelösten Krise. Für den Abend wurden drei Beiträge ausgewählt, die ein thematisch dichtes Gewebe um den Komplex „Mental Health“ spannten: Die Gruppe La rara troupe spielte einen Auszug aus einer kommenden Episode des Hospital Prison University Radios ein und im Anschluss wurde ein Gedicht von Óscar Fernando Morales Martínez vorgetragen, dessen Zeichnungen im KW Institute for Contemporary Art ausgestellt sind. Inga Zimprich und Julia Bonn führten in ihr Zine ein und berichteten von den Treffen und Gesprächen mit der Antipsychiatrischen Informations- und Beratungsstelle GLADT e.V. (eine Selbstorganisation von PoC, Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans*, Inter* und Queeren Menschen in Berlin) und Space2Grow (ein Ort, der Workshops und persönliche Beratungsgespräche für geflüchtete Frauen* und deren Partner*innen zu Familienplanung und Gesundheit anbietet). Die Einladung der Feministischen Gesundheitsrecherchegruppezur Berlin Biennale kann also Mut machen – all jenen, die sich für eine kollektive, recherchebasierte Praxis entscheiden und die ihre diversen Identitäten produktiv machen, statt sie fein säuberlich zu trennen.
Dr. Anna-Lena Wenzel ist freiberufliche Autorin und Radiomacherin. Von 2010 bis 2013 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt Urbane Interventionen an der HFBK Hamburg.
(1) Eine Übersicht über die drei Experiência bietet dieser Artikel: https://kultur-mitte.de/magazin/dreifacher-auftakt-der-berlin-biennale
(2) Der formulierte Wunsch „von Künstler*innen und Projekten zu lernen und nachhaltige Beziehungen“ in der Stadt Berlin und in die direkte Nachbarschaft aufzubauen, scheint dabei kein Lippenbekenntnis gewesen zu sein, wie dieses Statement aus dem Katalog belegt: „Wir, diejenigen, die dazukamen, lernten von unseren Nachbar*innen, von ihrer vorsichtigen Neugier und großzügigen Bereitschaft. […] Für kurze Zeit ließen Menschen sich hier nieder, fanden zusammen, versammelten sich, sprachen miteinander und hörten zu. Was bleibt, ist ein lebendiges Archiv dieser Gastfreundschaft.“ der riss beginnt im inneren, hrsg. v. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst, Berlin 2020, S. 148
(3) Die Veranstaltung wurde dokumentiert und kann hier nachgeschaut werden: https://11.berlinbiennale.de/de/dokumentation/acts-of-listening-illness-crisis-and-the-labor-of-care