stringfigures@rhizome.hfbk.net: Konstellation
Es ist ein schmaler Grat zwischen einer künstlerischen Position, die auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam machen will und künstlerischen Arbeiten, ich denke hier viel an Fotoarbeiten, die die als Missstand / Unterschicht / Opfer definierten Personengruppen abbilden.
Ich denke hier z.B. an die alten Meisterinnen Diane Arbus und ihre Freaks, Roger Ballen und seine armen, weißen Südafrikaner. Ich fühle mich immer unwohl, wenn ich Arbus’ Fotografien, die unschlagbar in ihrer Gesamtästhetik sein mögen, betrachte. Und zwar nicht, weil ich denke oh, was sind das für „Außenseiter wie Transvestiten, Kleinwüchsige, Prostituierte, Nudisten, geistig und körperlich Behinderte.“ (Wikipedia), sondern, weil ich nicht weiß, ob wie sie das meint. Wie sie fotografiert hat. Angeblich hat sie den Menschen Zeit gelassen. Ich glaube das auch. Ich glaube auch, dass sie nicht auf sie herabgeschaut hat. Ich glaube auch, dass alle Fotografinnen, die sich in diesem Bereich der Neuen Sachlichkeit kind of Freakshow bewegt haben, ein Anliegen hatten, es eine politische Haltung gab, einen Wunsch nach Aufklärung.
Ballen kennt diese Kritik an seiner Arbeit auch schon. “Meine Kritiker haben in Wahrheit keine Ahnung von der Wirklichkeit, in der ich mich bewege, oder von den teils tiefen Beziehungen, die ich zu den Leuten unterhalte, die auf meinen Fotografien zu sehen sind.” Ich glaube ihm, dass er das so meint. Ich fühle mich dennoch nicht wohl damit. Das Argument, dass das ja auch beabsichtigt sei, kann ich nicht gelten lassen. Die Auseinandersetzung mit prekären Lebenssituationen halte ich für wichtig und relevant. Die Art, WIE man sich auseinandersetzt und welche Rolle das eigenen EGO in so einer Arbeit spielt sind die großen Fragen und auch Herausforderungen. Hier könnte man vielleicht für ein konstellatives Arbeiten statt für ein hierarchisches Arbeiten plädieren.
(Ich habe schnell gegoogelt ob es den Begriff „konstellativ“ überhaupt gibt. Zufällig fand ich den Begriff hier wieder:
https://www.zeit.de/2017/38/alexander-kluge-kunst-museen-interview
„Sie haben einen Himmelskörper wie die Sonne, der hält ohne Stangen, Ketten oder sonstige Verknüpfungen lauter Planeten und Himmelskörper zusammen, sogar den Sternenstaub. Das ist das konstellative Prinzip. Dem gegenüber steht die lineare maschinelle Verknüpfung, die ich hoch achte. Ich bin zum Beispiel von Haus aus Jurist und würde einen Prozess immer wie eine Maschine behandeln. Da würde ich keine Verwirrung stiften und nicht mit Poetik kommen. Aber es gibt auch die Plastizität unserer Nerven, die Nervosität, mit der wir leben und wahrnehmen.“ formuliert Alexander Kluge.)
Es muss einerseits eine Sichtbarkeit geben, ja. Es müssen Menschen zu Wort und vielleicht auch zu Bild kommen, die es sonst nicht kommen.
Und doch, fühle ich mich damit nicht gut, wenn ich in Ausstellungen oder im Kunstkontext auf diese sozialkritischen oder sogenannten dokumentarischen Arbeiten stoße.
Diese Arbeiten sind nur ein sehr offensichtliches Beispiel für eine Haltung, die ich noch nicht ganz ausdifferenzieren konnte. Auch in der bildenden Kunst sowie der aktuellen Fotografie gibt es Momente, in denen ich überlege - ist das eine Arbeit auf Augenhöhe oder ist das Reality TV in der Kunst? Labt sich die/der Künstlerin gerade am Elend anderer? Ist es einer von denen, die/der mit dem Aldistoffbeutel https://www.aldi-nord.de/produkte/aus-unserem-sortiment/haushalt/tragetaschen/color-tragetasche-2456.article.html und Working Class kokettiert und schon seit Kindertagen mit künstlerischer Frühförderung (bilingual) konfrontiert wurde.
Ich komme darauf, weil ich neulich mit netten Leuten in einem netten Gespräch war:
Person sagt: „Das Bahnhofsviertel ist megaspannend.“ Es folgte eine ungefähre Beschreibung eines Bahnhofsviertels einer westdeutschen Stadt. Ich schaue ihn fragend an und möchte wissen warum. Person antwortet: „Es ist total lebensfeindlich. Da sind überall Junkies. Voll krass.“ sagt Person in schwärmerisch analytischem Ton. Ich schätze die Person als Künstler ein, der sich anyhow sozial verhält und links sieht, Klassenkampf und so weiter. Ich schätze ihn aber auch so ein, dass er keine Junkies kennt.
Ich gucke zu Boden, denke an W. und M. Zwei Menschen, die Junkies waren, die in solchen Vierteln abhingen um nicht allein zu sein. Ich frage mich ob ich was sagen soll oder ob das spießig ist. Ich hätte gerne gefragt, warum es so toll ist durch abgefuckte Viertel zu spazieren. Um zu schauen, wie schlecht es manchen geht? Ja, so meint er das nicht, weiß ich. Aber vielleicht ganz tief, unterbewusst doch? Um zu helfen durch hilfsbereite Kunst? Dokumentarische Fotografie? Linke Parolen?
Ich sage nichts.
M. hat es damals schlimm erwischt. Er war auch Junkie. Er ist es immer wieder. Habe ihn vor drei Jahren mal besucht, im Süden. Er kann keinen längeren Gedanken fassen. Lebt in einer Wohnung, die so leer war, … ich wusste gar nicht wie leer eine Wohnung sein kann. Eine Tasse. Ein Teller. Eine Schüssel. Ein Fernseher und ein Schlafsofa. Ein Poster mit psychedelischen Palmen und einem Südseegefühl. Mit M. habe ich früher viel Musik gehört. Er hatte so eine Anlage, wo die CDs eingelegt waren, wie eine riesige Jukebox. Wir haben Nirvana gehört und so. Meine Oma hat ihn immer betreut. Als sie nicht mehr war, war er irgendwie auch nicht mehr. Ich hatte ihn nochmal besucht, damals, da muss ich heute noch drüber lachen. Ich war 17 Jahre alt. Mein damaliger Freund war mit. M. saß da mit irgendeinem Kumpel und bot uns einen Wodka Lemon an. Wir nahmen an und die Mischung - war ungefähr 90% Wodka und 10% Lemon. Ich: „Pffffh, bäh.“ Er: „Was?“ Ich: „Das kann man nicht trinken.“ Er: „Ach so, ja ist wegen meiner Zahnschmerzen.“ Es gab viele absurde Situationen. M. arbeitet jetzt auch in einer WfbM. Klebt Etiketten auf Verpackungen. Hat sie uns stolz gezeigt. Ich wusste nicht, was ich sagen soll. Wir gingen spazieren. Seine Sätze waren so kurz. Seine Augen waren so warm und liebevoll wie früher, aber wir haben uns nicht begegnen können. Ich meine, so innen drin. M. hat immer wieder Rückfälle, fliegt aus seinen Programmen. Ich weiß nicht, wo er ist, ob er eine Wohnung hat oder wieder auf der Straße lebt.
Wenn er auf der Straße lebt, kommen vielleicht Künstler*innen zu Recherchezwecken vorbei. Weil es wahnsinnig interessant ist.
P.S.: Abends dann das hier gelesen. https://www.monopol-magazin.de/lars-eidinger-aldi?fbclid=IwAR0My6BCm7qHKRsfDeshk7MJXUsFu_YXrVonVryaykk9oxZ6IOfFi0NXiVw