Das offene Kunstwerk und seine Reproduzierbarkeit
Ein Text von Anne Meerpohl.
Wie oft schaut man tagtäglich an sich hinunter und betrachtet sich aus einer Art Vogelperspektive? Oder in einen Spiegel? Unzählige Male wiederholen sich tagtäglich ähnliche Perspektiven auf das Selbst. Subjektive Blicke und Bildausschnitte auf den eigenen Körper, das eigene Dasein und die Prozesse künstlerischer Produktion verfolgt das Werk von Anna Oppermann, das gerade in der Bundeskunsthalle in Bonn eine Retrospektive erfahren hat. So eine Selbstbefragung und Kontextualisierung sozialer, ökonomischer und geschlechtlicher Umstände reiht sich ein in feministische Analysen ihrer Zeit und einem progressiven Umgang mit dem künstlerischen Schaffen selbst.
Den Auftakt der Ausstellung bilden die Blicke von Anna Oppermann (1940-1993). Aus 365 Fotografien, Selbstportraits aus den Jahren 1965 bis 1975, schaut sie den Besucher*innen entgegen, mal direkt, mal aus dem Bild heraus. Der erste Ausstellungsraum wirkt wie eine Einführung in ihr Werk, eine reduzierte Zusammenstellung zentraler Fragestellungen der Künstlerin. Neben Zeichnungen aus ihrer Studienzeit an der HFBK Hamburg, findet sich eine Ansammlung von Aufbaumaterial und ein Spiegel. Der Aufbau konstituiert unmittelbar ein Problem, eine Referenz zu Oppermanns Untersuchungen und suggeriert den immensen Aufwand, die Herausforderung, die Installationen zu re-inszenieren. Konservatorische Fragen rund um das Werk werden in Form von Hinweisschildern und erweiterten Erläuterungen am Ende der Ausstellung aufgegriffen. Der Spiegel findet sich als Motiv bis zum Ende wieder, als Trompe-l’œil, Bildraum oder als Objekt in den Installationen.
In zahlreichen Zeichnungen und Malereien, vor allem aus den 1960er Jahren, tauchen immer wieder Füße, collagenartig, gespiegelte Raumperspektiven, gemalte Rahmen und beinartige Gebilde auf, die suggerieren, von oben an einem Körper herunterzublicken. Die Besucher*innen nehmen den Blick der Künstlerin ein und werden gleichzeitig auf den eigenen zurückgeworfen, nahezu wie in das Bild hineingesetzt. Diese Formen der Verkörperung des eigenen Blickes und wechselnden Perspektiven spielen in den Ensembles der Künstlerin eine große Rollte. Das Betrachten als Methode führte letztendlich von dem multiperspektivischen, jedoch zweidimensionalen Bild zur raumgreifenden Installation. Das Arrangieren von Pflanzen und Spiegeln als Kulisse für ihre Malereien führte Oppermann zum Reduzieren der Bildfläche und zum installativen Arbeiten, zu ihren Ensembles: „Die erlebte Verschmelzung von mir und einem Gegenstand, wollte ich damals darstellen, um mir diesen angenehmen Zustand für die Erinnerung festzuhalten und auch anderen Menschen dieses Erlebnis nachvollziehbar zu machen“.[1] Das Dahinter der einstigen Bildfläche und seiner Gegenstände werden vom Vorbild zur Arbeit selbst transformiert, das Arrangieren zur ästhetischen Handlung.[2] Diese verbleibt als abwesender, vielleicht gespenstischer Verweis in der Installation und wird wie die prozessuale Arbeitsweise für die Rezipient*innen erfahrbar.
Beim Durchstreifen der Räumlichkeiten der Ausstellung drängt sich das Gefühl auf, dass sich nach jeder Ecke das Oeuvre Stück für Stück auffaltet. Analog zu dem zentralen Motiv und Bezugspunkt der Pflanze, von denen immer wieder frische Exemplare in Vasen in oder an den Ensembles zu finden sind, entwickelt sich das Werk von einem geschlossenen Bild zur offenen, explosionsartigen Installation. Die Ensembles wachsen regelrecht aus den Wänden heraus und breiten sich wie eine raumnehmende Maßnahme aus. Die Ansammlungen von drapierten Arbeiten und Objekten aus Zeichnungen, handgeschriebenen Zetteln, Dokumentationen vorheriger Aufbauten („Zustände“), Fotografien und Zitaten verbreiten ein organisiertes Chaos im Raum. Sie scheinen kalkuliert improvisiert entstanden, prozessual, eine Art Zusammenspiel von Zufall und Handlung, eine mögliche Referenz auf Umberto Eco und sein „offenes Kunstwerk“, das in ihrer Arbeit zitiert wird. Der Anfangs- und Endpunkt ist schwierig zu bestimmen. So tauchen Bilder immer wieder in unterschiedlichen Gruppierungen auf und zitieren sich selbst durch Abbildungen vergangener Ansichten, die wiederum unterschiedliche Zeitlichkeiten suggerieren. „Die Vergangenheit ist für mich jederzeit durch Fotos rekonstruierbar“, erläutert Oppermann im Video am Ende der Ausstellung.[3]
Die sich wiederholenden Reproduktionen der verschiedenen „Zustände“ verweisen auch auf repetitive Care-Arbeit wie Kochen, Putzen oder emotionale Arbeit. Man denke an den Ausspruch „a woman´s work is never done“ und die Genese der reproduktiven Sphäre, die menschliches Dasein überhaupt am Leben erhält, dementsprechend niemals endet. Mit dem Wiederholen einzelner Bildelemente und dokumentarischem Material lässt sich ein Bezug auf feministische Auseinandersetzungen der 1970er Jahre herstellen, die das Rollenbild der Hausfrau und die Trennung von öffentlichen und privaten Räumen kritisieren. So wirkt der Rahmen als Bildmotiv in den Malereien als auch seine Öffnung bis hin zur Aufhebung durch die Ensembles als Verweis auf Enge und Begrenzung, eine Analogie auf Rollen von Weiblichkeit und soziale Normen. Im Studium an der HFBK Hamburg wurde ihr ab ihrer Mutterschaft 1964 das Label der studentischen Hausfrau zugeschrieben, welches sie nicht nur vehement ablehnte, sondern auch zu transformieren wusste.[4] Mit Hausfrau Sein, 1968 – 1973 erarbeitete sie eine der ersten Bild-Raum-Collagen, in der sie die verschiedenen Ebenen von Arbeit durch Mutterschaft, gesellschaftliche Normen, Studium und Künstlerinnen Dasein aufgreift. Sie studierte unter anderem bei Fritz Seitz, Jan Bontjes van Beek und in der Klasse Freie Grafik bei Paul Wunderlich. Durch ihre Hochzeit mit Wolfgang Oppermann änderte Regina Heine erst ihren Nachnamen und mit dem Ende ihres Studiums auch ihren Vornamen. Nach ihrem Abschluss stellte sie in zahlreichen Hamburger Institutionen aus und lehrte 1976 als Gastprofessorin an der HFBK. 1986 war sie Mitbegründerin der Galerie Vorsetzen neben den HFBK-Alumni Adam Jankowski, KP Brehmer, Dagmar Fedderke und Constantin Hahm. Im gleichen Jahr stellte sie dort ihr Ensemble Pathosgeste – MGSMO ("Mach große, schlagkräftige, machtdemonstrierende Objekte!") aus, welches ein Jahr später auch auf der documenta 8 gezeigt wurde. Wobei auch hier Teile von anderen Arbeiten integriert waren und es immer wieder zu Reduktionen und Wandlungen in den Präsentationen gab. Wie in ihren Titeln oft erkennbar, kritisiert Oppermann die Kommerzialisierung der Kunstszene und ihre Großformate und Überfüllung wirken dagegen wie eine ironische Pose zur kapitalistischen Wachstumsideologie.
Bini Adamczak bezeichnet referierend auf Karl Marx die „Gesellschaft als Ensemble der menschlichen Beziehungen“[5]. Ein Ensemble beschreibt eine Zusammenstellung bestehend aus einzelnen Bestandteilen, eine Art Rezeptur oder eine künstlerische Gruppe. Gemeint sind aber nie die Einzelteile, sondern ihr Geflecht und Zusammenspiel. Solche sozialen Konstellationen scheint Anna Oppermann durch ihre Installation im Raum zu übersetzen. Mehrfach verweist sie auf den Prozess, die Offenheit des Werkes und die ökonomischen Verstrickungen des Kunst-Machens zum Beispiel in der Trope des „Kunsthändlers“. Ihre Ensembles wirken im Raum wie Spuren einer Versammlung, Überreste eines Schlachtfeldes menschlichen Miteinanders. Trotz der konservatorischen Herausforderungen schafft Retroperspektive eine körperliche Raumerfahrung, die die soziale und kritische Vorgehensweise Oppermanns erlebbar macht.
Anne Meerpohl absolvierte im Sommer 2022 ihren Master of Fine Arts an der HFBK Hamburg bei Prof. Dr. Astrid Mania und Prof. Jutta Koether und arbeitet als freie Künstlerin, Kuratorin und Autorin.
13.12.2023 – 1.4.2024
Anna Oppermann. Eine Retroperspektive
Bundeskunsthalle, Bonn
Website mit allen Informationen
Fußnoten:
[1] Wandtext Anna Oppermann - Retroperspektive; aus: Anna Oppermann. Ensembles 1968 bis 1984, Katalog zur Ausstellung im Kunstverein Hamburg und im Bonner Kunstverein, Edition Lebeer Hossmann, 1984, S. 59.
[2] Vgl. Anke Haarmann, „Praxisästhetik“, in Kunst und Handlung: ästhetische und handlungstheoretische Perspektiven, hrsg. von Daniel M. Feige und Judith Siegmund, Edition Moderne Postmoderne, Transcript, 2015
[3] Anna Oppermann, Michael Geißler: Statement und Dokumentation zu „Künstler sein (Zeichnen nach der Natur, zum Beispiel Lindenblütenblätter)", 1977 Farbe, 00:15:34 © Archiv Michael Geißler, ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe
[4] Vgl. “Anna Oppermann: Interview mit Christa Damkowski, 1981”, in: Anna Oppermann Ensembles 1968 – 1984, Edition Lebeer Hossmann, 1984, S. 41.
[5] Bini Adamczak, Beziehungsweise Revolution: 1917, 1968 und kommende, Edition Suhrkamp 2721, Zweite Auflage, 2017, S 239.
Der Artikel erscheint in der April-Ausgabe des Lerchenfeld-Magazins.