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Das Jahr 2019 ist vorbei und die Zehner Jahre ebenfalls. Ein gern genutzter Anlass, um auf das Vergangene zu blicken und zu analysieren, was eigentlich so passiert ist und was es vielleicht bedeuten könnte.
Die Zeitschrift Frieze hat hier einen schönen und durchaus pragmatischen Ansatz gewählt - Jennifer Higgie analysiert die erste Ausgabe des Jahres 2010 und versucht so, Veränderungen und Kontinuitäten im Kunstverständnis der Zehner Jahre sichtbar zu machen. Hier ein kleiner Vorgeschmack: „In issue 128, with a few exceptions, race, gender, sexuality and class are hardly mentioned – something that seems extraordinary in 2020. Although the civil-rights activist Tarana Burke had founded ‘Me Too’ on Myspace in 2006, in order to promote ‘empowerment through empathy’ among sexually abused women of colour, the widespread online #MeToo movement wouldn’t take off for seven years and #BlackLivesMatter was still three years away. There are 24 full-page advertisements for solo exhibitions: 22 of them feature the work of (overwhelmingly white) male artists. Damien Hirst’s exhibition is titled ‘Nothing Matters’.“
Jens Uthoff versucht in seinem TAZ-Artikel den Aufstieg des Musik-Streamings in den Zehner Jahren zu analysieren. Streaming habe sich zur dominanten Form des Musik-Konsums entwickelt, so der Autor. Themen sind unter anderem die geringen Erträge für KünstlerInnen durch Streaming-Dienste („0,007 Euro/Stream bei Apple Music, 0,004 Euro bei Spotify und 0,0006 Euro bei YouTube“) und Anpassungen der musikalischen Struktur an die Algorithmen der Provider („Spotify zählt einen angespielten Track erst nach Überschreiten der 30-Sekunden-Marke als Abruf zählt. Die ersten 30 Sekunden müssen also knallen, zu Beginn des Stücks müssen entscheidende Motive schon auftauchen, der Kunde muss getriggert werden.“) Einen kurzen Ausblick in die Zukunft gibt es auch noch.
Eine weiteres Merkmal der (späten) Zehner ist die massenhafte Verbreitung des Film-Streamings als neue Konsumform. Tim Caspar Boehme schreibt, ebenfalls für die TAZ, über die Veränderungen, die jene neue Darreichungsform mit sich gebracht haben, darunter: Komplexere Erzählweisen durch ambitionierte Serienformate, „[…] Speed-Watching [!?, Anm.d.A.], bei dem man online mit erhöhter Geschwindigkeit schauen kann, wohlgemerkt so, dass die Dialoge noch zu verstehen sind“, und Gesundheitsgefahren durch Komaglotzen. Dabei hätten klassische, erzählerisch in sich abgeschlossene Spielfilme keineswegs ausgedient, so der Autor: „Aus dem Druck, den die Serien selbst erzeugen, immer weiter zu schauen, resultiert irgendwann eine große Leere. Wer in eine solche Situation gerät, kann bei Filmen sogar Trost finden. […] Sie bieten eine Art narrativen Schutzraum, aus dem sie ihr Publikum am Ende wieder entlassen.“
Einen besonderen Rückblick auf des Jahr 2019 gibt es auf Hyperallergic.com zu lesen. Statt einer der üblichen Listen mit den „mächtigsten Personen im Kunstbetrieb“ haben die Redakteurinnen und Redakteure die zwanzig machtlosesten Akteure (im weitesten Sinne) der Kunstwelt benannt und beschrieben, darunter „Sexual Harassment Whistleblowers“, „People Still Waiting in Kusama Infinity Room Lines“, „Female Animals in Museums“ und „Arts Journalists, especially critics of color“.
Im fortwährenden Streit um Repräsentation, Gerechtigkeit, Verantwortung und Freiheit in der Kunst ergreift der Schriftsteller Thomas Hettche eindeutig Position: in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des an ihn vergebenen Joseph-Breitbach-Preises ruft er zur Verteidigung der Kunst als Ort des Universellen, Über-Subjektiven und total Freien auf – gegen eine „identitäre“ Logik. Der Text, welcher auf Zeit Online veröffentlicht wurde, ist ziemlich gravitätisch geraten, die Lektüre lohnt sich aber allemal, bringt er doch vor allem philosophische Argumente ins Spiel. Das wirkt inzwischen fast ein bisschen altmodisch, ist aber eine interessante Abwechselung zu den häufig pragmatischen bzw. politischen Argumentationen, welche in jenen Diskussionen ins Feld geführt werden.
Hans-Olrich Obrist, der vermutlich bekannteste Kurator innerhalb der Kunstwelt, hat auf Spiegel Online ein paar Fragen von Carola Padtberg beantwortet. Thema ist vor allem der Einfluss von Instagram und digitalen Technologien auf die Gesellschaft und die Kunst im Allgemeinen, KünstlerInnen im Speziellen und auf ihn ganz persönlich, beantwortet. Wahnsinnig interessant ist das nicht, abgesehen von seinem letzten Satz vielleicht, in dem er die Hauptaufgabe von Kunst für das kommende Jahrzehnt beschreibt: „[…] jeder sollte überlegen, wie er den fatalen Kräften der Homogenisierung und dem Nationalismus entgegenarbeiten kann. Es wird die große Aufgabe zeitgenössischer Kunst im kommenden Jahrzehnt sein.“
Ein wirklich sehr interessantes Interview mit dem Soziologen Andreas Reckwitz ist kürzlich beim Freitag erschienen. Ulrike Baureithel hat mit ihm ausführlich über aktuelle gesellschaftliche Verschiebungen gesprochen, vor allem über die Aufspaltung der sogenannten Mittelklasse: „Zwischen der neuen und der alten Mittelklasse unterscheiden sich die kulturellen Werte deutlich: Die alte Mittelklasse kultiviert Werte wie Selbstdisziplin und Pflichtbewusstsein, sie lebt überdurchschnittlich in kleinstädtischen Regionen. Die neue Mittelklasse ist dagegen kosmopolitisch geprägt. Ihr geht es um mehr als nur materiellen Erfolg, sie will sich auch entfalten im Beruf, im familiären Bereich, in der Freizeit. Sie lebt vorrangig in den Metropolen und gibt den Ton an in Bezug auf die gesellschaftlichen Leitwerte wie Flexibilität, Mobilität oder lebenslanges Lernen, aber auch Alltagswerte wie hohes Gesundheitsbewusstsein oder kulturelle Diversität. Allgemein gesprochen könnte man sagen, die neue Mittelklasse vertritt Werte der Entgrenzung, die alte Werte der Verwurzelung“, so Reckwitz. (Nicht nur) für alle Angehörigen der „kreativen Klasse“ ein erkenntnisreiche Lektüre.
Zum Thema Arbeit noch etwas sehr interessantes, aber ein bisschen Off Topic: Unternehmensberatungen oder Strategieberatungsfirmen wie Ernst & Young, Roland Berger und McKinsey scheinen bei WirtschaftswissenschaftlerInnen als Arbeitgeber besonders begehrt zu sein, trotz der legendär exzessiven Arbeitskultur. Originalität und Innovationskraft sind ein wichtiger Teil des Selbstbildes dieser Firmen, weshalb BewerberInnen sich im Vorstellungsgespräch auf besonders kreative Fragestellungen gefasst machen müssen. Das Portal efinancialcareers.com hat eine Liste mit echten Fragen zusammengestellt, welche JobanwärterInnen zu beantworten hatten.
Konrad Paul Liessmann, Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien, beschreibt in einem Essay für die NZZ die Probleme im gesellschaftlichen Umgang mit Lookism, also der Diskriminierung oder eben Bevorzugung von Menschen aufgrund ihrer Attraktivität bzw. ihrem Mangel an ebendieser. Schönheit sei ungleich verteilt, so der Autor, und daraus würden sich gesellschaftliche Probleme ergeben. Ansätze wie „Body Positivity“ oder „Body-Neutrality“ sind in den Augen des Autors allerdings zu einfach gedachte Konzepte. Er schreibt: „[…] Dass sich hinter der Schönheit die Lüge verbergen und sich durch die Hässlichkeit die Wahrheit offenbaren kann, ist ein Verdacht, den nicht nur Nietzsche hegte. Sich solche verstörenden Ambivalenzen im Namen der Gerechtigkeit zu versagen und der Einfachheit halber gleich alles schön zu nennen, wird die Welt nicht besser machen, sondern nur mit einem ideologisch grundierten, falschen Schein überblenden. Nicht nur der Schlaf der Vernunft, auch der Traum der Gerechtigkeit gebiert Ungeheuer. Diese sind in der Regel kein netter Anblick.“
Noch was Schönes zum Schluss (danke an Tilman für den Tipp) – Manuel Schubert hat sich alle Filme von Til Schweiger angesehen und protokolliert seine Eindrücke in einem Artikel für die TAZ.
Johannes Bendzulla