Die neue Stringfigures-Kollumne: Sound und Zeit
Ich bin CODA. Ich war glaub schon auf der weiterführenden Schule als ich zum ersten Mal diesen Begriff hörte. Meine erste Reaktion war: äh, nee, ich gehöre zu keiner Gruppe, die einen Namen hat, der mir irgendwie eh konstruiert vorkommt. Ich fühlte mich bis dahin nie zugehörig zu irgendeiner Gruppe, weder den Hörenden, noch den Gehörlosen, etc. darum kam es mir so fremd vor, dass ich es erst einmal ablehnte.
„CODA ist die Abkürzung von Children of Deaf Adults (englische Bezeichnung für Kinder von gehörlosen Erwachsenen). Das sind also Kinder, deren Eltern taub sind oder die zumindest einen tauben Elternteil haben. […] Hörende Kinder von gehörlosen Eltern wachsen in zwei unterschiedlichen Kulturen und mit zwei unterschiedlichen Sprachen auf. In ihren Familien und den Gehörlosengemeinschaften wird Gebärdensprache verwendet. Diese bringt eigene soziale und kulturelle Normen mit sich, die sich von der hörenden Welt stark unterscheiden. Hörende Kinder haben aufgrund ihres direkten Umfeldes (durch Verwandte, Bekannte, Kindertagesstätte, Nachbarn und verschiedene Medien) auch Kontakt und Zugang zur Lautsprache. Durch die Sozialisation innerhalb von zwei Sprachen und Kulturen haben CODAs die Möglichkeit, sich zwei Kulturkreisen zugehörig zu fühlen. […] Man kann es als ein Zwischen-zwei-Welten-Leben empfinden. Die persönliche Entwicklung von klein auf ist stark geprägt durch das Leben der Eltern und Erwachsenen.
Oft ist es den betroffenen Kindern allerdings gar nicht bewusst, dass ihr Leben „anders“ ist.“ (https://www.yomma.de/yomma/) — Meine Mutter mailte mir neulich einen Link zu einem Video der Künstlerin Christine Sun Kim. Das traf mich in zweierlei Hinsicht wie ein Schlag. Zum Einen hat meine Mutter mir zum ersten Mal in meinem Leben als Künstlerin etwas zugeschickt, das zeigt, dass sie mich als Künstlerin wahrnimmt. (Bisher: Was hast du nochmal studiert? Was arbeitest du? Was machst du den ganzen Tag? Auch bisher: ich besuche mit ihr die Ausstellung „Speculations on anonymous materials“ im Kasseler Museum Fridericianum. Die Ausstellung ist funky. Meine Mutter findet das auch und berührt mehrere Ausstellungsstücke, obgleich ich ihr sage, sie soll das nicht machen, obgleich Aufsichten sie ermahnen. Ich falle fast in Ohnmacht. Auch bisher: meine Mutter entscheidet im Alltag sehr oft wie eine Konzeptkünstlerin. Das liegt nicht an ihrer Taubheit. Es ist einfach so wie es ist - she’s special. Es ist großartig und weitet meinen Blick, teilweise gewaltsam.)
Zum Anderen sehe ich zum ersten Mal eine Person aus der Gehörlosencommunity, die sich in dem gleichen Feld wie ich bewegt. Sie ist Künstlerin. Sie ist taube Künstlerin. Und zwar nicht die old story mit Beethoven und / oder die (ja wirklich) faszinierende Geschichte von Helen Keller etc. pp. Sie ist Taube Künstlerin, mit Kind, mit blauen Haaren, mit Klamotten die mir gefallen, sie macht Kunst, die ich von Herzen gut finde, die nach vorne denkt, deren Blick in die Ferne schweift, wenn sie über Zeit und Sound nachdenkt. Sie ist so da und ich verliebe mich ein bisschen, weil ich sehe: diese beiden Welten können verschmelzen. Sie können miteinander funktionieren. Christine Sun Kim ist mir ein Vorbild geworden, das ich als Kind und Jugendliche vermisst habe.
— Ich bin sieben Jahre alt. Mein Vater geht mit mir zum Himmelsstürmer. „Man walking to the sky ist eine Skulptur des US-amerikanischen Künstlers Jonathan Borofsky. Die Figur steht auf dem Vorplatz des Kulturbahnhofs Kassel. Der „Himmelsstürmer“, wie die Skulptur von den Kasseler Bürgern genannt wird, wurde von Borofsky für die documenta IX 1992 entworfen.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Man_walking_to_the_sky) Ich werde davor fotografiert. Mein Vater und ich sind auf jeder documenta gewesen. Mit meinem Kunstlehrer haben wir die in der Stadt verbliebenen Kunstwerke in der Oberstufe auch angeschaut. Ich habe all diese Sachen angeschaut wie ich mich in Disneyland umgeschaut habe. Es gab keinen Bezug zwischen mir und den Kunstwerken. Ich habe es einfach angeschaut, wie alles andere aus der hörenden Welt. Mein Vater hat immer gerne fotografiert. Auch gut würde ich sagen. Als ich jetzt meinen Vater fragte, was er über die documenta denkt sagte er: er fand es toll, dass Kassel sich dann verändert hat und er hat beim Fotografieren mehr experimentiert. Das ist doch wirklich das Beste, was passieren kann, dass man sich darüber freut und einen Perspektivwechsel wagt.
— Während meines ersten Studiums in Hamburg lerne ich eine taube Kommilitonin kennen. Sie studiert Sonderpädagogik wie ich und später im Master will sie als Zweitfach Kunst studieren. Ich motiviere sie und helfe ihr etwas. Sie kommt an die HfbK. Mit zwei Dolmetscher*innen. Es funktioniert ziemlich gar nicht. Die HfbK ist nicht auf die Bedürfnisse einer tauben Person vorbereitet, die Studierenden haben kein Interesse daran, sich mit ihr auseinanderzusetzen und einmal, als wir durch die Gänge gehen, macht sich sogar ein Student über sie lustig. Mein Entsetzen darüber war ebenso groß wie der Schock, den ich bis heute nicht verarbeitet habe, nicht verarbeiten will. Die Frage ist nun aber nicht: wie kann eine Kunsthochschule sich auf so einen Fall vorbereiten, sondern viel mehr: wie kann sich die hörende Welt auf die Welt der Gehörlosen einlassen. Wie kann das gehen? Ich weiß es nicht genau, aber ich glaube über echtes Interesse kann schon einiges geschehen. Es hilft nichts die Gebärdensprache zu romantisieren und immer den Film „Jenseits der Stille“ zu erwähnen, es hilft, sich zu informieren.
— https://gehoerlosenzeitung.de
https://www.netflix.com/de/title/81035566
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https://www.facebook.com/MARKKhamburg/videos/poetry-slam-deaf-culture/3600314906674112
https://www.instagram.com/dana.cermane/
Sehen statt Hören - Magazin in Gebärdensprache in der BR-Mediathek
Text: Jenny Schäfer